Wer hat gesagt, dass es einen Zwischenfall gab?


In vergangenen Zeiten gab es klare Vorstellungen davon, wie man sich zu verhalten hatte. Etikette und Anstand herrschten nicht nur in den höchsten Kreisen vor, sondern auch in den menschlichen Beziehungen von normalen Bürgern. Es war genau geregelt, wer zuerst wem vorgestellt wird und wie man sich begrüßt. Beim sozialen Aufstieg wurde erwartet, dass auch das höfliche Verhalten gelernt wird.

Obwohl die meisten Regierungschefs und Politiker sich durchaus ihrem Amt entsprechend würdig verhalten, gibt es doch Ausnahmen. Da schiebt sich ein US-Präsident beim NATO-Gipfel (2017) in die vordere Reihe und grinst dabei. Derselbe Staatsoberhaupt begrüßt die Frau seines französischen Amtskollegen mit einer sexistischen Bemerkung, sie sähe für ihr Alter erstaunlich gut aus. Wie soll sich eine Frau dabei verhalten, außer freundlich zu lächeln? Als er der Bundeskanzlerin Angela Merkel den gewöhnlichen Handschlag im Weißen Haus verweigerte, konnte sie auch nur lächeln, obwohl man an ihrem Gesichtsausdruck ihre Gedanken ablesen konnte. Nicht einmal im Umgang mit der Queen schaffte er es, ihr den Vorrang zu geben, sondern sie musste ihm ausweichen. Man mag ja sagen, „Das ist eben Donald Trump. Was will man von ihm schon erwarten?“ Erwartet hätte ich, wie viele andere, dass er als Präsident am Amt wachsen würde. Leider geschah das nicht.

Wie geht es den Frauen, die in den männerdominierten hohen Ämtern der Welt ihren Platz suchen? Die Monarchinnen werden meist mit großem Respekt behandelt. Das liegt wohl auch an der ganzen royalen Umgebung. Gold und Glitzer machen eben Eindruck. Aber eine Frau wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen macht keinen großen Eindruck durch Prunk. Ihr Amt ist ja schließlich “nur ein Job,“ auch wenn es um eines der höchsten Ämter der Europäischen Union handelt. Man mag ja schon gewohnt sein, dass in den sozialen Medien Respektlosigkeit herrscht und Personen des öffentlichen Lebens beschimpft werden, obwohl diejenigen, die das tun, sich selber damit disqualifizieren. Und doch ist sie eine der höchsten politischen Vertreterinnen der Europäischen Union und sollte respektvoll behandelt werden. Schon das Amt verdient Respekt. Aber warum erleben Frauen sogar in solchen Ämtern, dass sie nicht behandelt werden wie ihre männlichen Kollegen?

Da stellt sich die Frage, wie soll eine Frau sich verhalten, die offensichtlich mit Absicht übersehen wird? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kommissionspräsident Juncker bei der Begrüßungszeremonie von einem afrikanischen Außenminister übergangen worden wäre. Am Gipfel der EU mit der afrikanischen Union am 19. Februar 2022 leistet sich der ugandische Außenminister General Jeje Odongo einen Affront gegenüber Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, indem er an ihr vorbeieilt, um EU-Ratspräsident Charles Michel und Präsident Emmanuel Macron die Hand zu geben. Von der Leyen nickt ihm zu und steht lächelnd daneben. Jetzt wäre es für Michel angebracht gewesen, einzuschreiten und dem Gast zu zeigen, dass er doch bitte auch die Kommissionspräsidentin begrüßen solle. Aber Michel schweigt. Stattdessen ist es Emmanuel Macron, der die Situation rettet: Mit einer Handbewegung dirigiert er Odongo zu von der Leyen, der ihr schließlich mit einem längeren Zunicken doch noch die Ehre einer Begrüßung erweist.[1]

Das erinnert mich an #Sofagate von knapp einem Jahr zuvor beim Empfang der beiden EU-Spitzen Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara. Bei Aufnahmen sieht man sie langsam in einen Raum schreiten, in dem vorne zwei vergoldete Stühle aufgestellt sind. Links und rechts stehen zwei Sofas. Michel geht mit Erdogan zu den Stühlen und setzt sich nieder. Von der Leyen bleibt stehen und ihr rutscht ein «Ääääähm» heraus, als sie erkennt, dass für sie kein Stuhl da ist. Sie muss dann auf dem linken Sofa Platz nehmen.

Genauso unhöflich wie das Verhalten des Uganders war auch das vom türkischen Präsidenten. In der Vergangenheit wurden in Brüssel immer drei Stühle bereitgestellt, wenn Erdogan zu Gesprächen mit den Chefs der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates, zusammenkam. Es konnte kein Versehen sein. Allerdings musste sich Charles Michel nachher anhören, dass es ihm an Manieren fehle, weil er nicht reagiert hatte. Der Vorwurf des Sexismus stand im Raum. Er hätte Von der Leyen den Stuhl anbieten können. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie Erdogan darauf reagiert hätte. Michel entschuldigte bei Von der Leyen und sagte, er habe schlaflose Nächte wegen des Vorfalls gehabt. Viel gebracht haben die schlaflosen Nächte wohl doch nicht, weil Michel auch bei der Begrüßungszeremonie mit dem ugandischen Außenminister nicht eingefallen ist, dass er ihn zur Kommissionspräsidentin hätte hinführen müssen.

Eigentlich müsste auch der ugandische Minister wissen, wie man sich respektvoll verhält. Schließlich gehört er zur Regierung von Premierministerin Robinah Nabbanja, die als erste Frau in der Geschichte Ugandas dieses Amt bekleidet. Dass es kein Versehen war, zeigte er als er in seinem Twitter-Beitrag nur Michel und Macron zeigte. Von der Leyen war für ihn keine Erwähnung wert. Ein solcher Macho wird sich wohl auch von seiner eigenen Vorgesetzten nicht zurechtweisen lassen.

Scheinbar hat sich die Kommissionspräsidentin das nicht zu Herzen genommen. Der Chefsprecher der Kommission Eric Mamer wenigstens tat so, als ob es nichts gegeben hätte. "Wer hat gesagt, dass es einen Zwischenfall gab? Haben Sie gehört, dass die Europäische Kommission gesagt hat, dass es einen Zwischenfall gab? Auf keinen Fall", sagte Mamer. "Bitte lassen Sie den Präsidenten der Europäischen Kommission aus dieser Geschichte heraus... Ehrlich gesagt, sollten wir es vermeiden, einen Sturm im Wasserglas zu erzeugen", so Mamer.[2]

Frau von der Leyen ging mit der Situation um, wie es sich für einen echten Profi gehört. Sie sah zu, wie sie umgangen wurde ohne mit der Wimper zu zucken. Diesmal hörte man nicht einmal ein “Ääähm.“ Frau von der Leyen zeigte ihre Größe, und ich wünschte, Charles Michel hätte es auch getan. Die anwesenden Journalisten empfanden die Situation als peinlich, und sie wird in Erinnerung bleiben, genau wie die Begegnung in Ankara.

Die irische Journalistin Eileen Loughlin schrieb über den Vorfall, “Selbst an der Spitze ihres Berufs werden Frauen übersehen… Die Entscheidung der Europäischen Kommission, die Brüskierung Ursula von der Leyens durch den ugandischen Außenminister herunterzuspielen, sendet die klare Botschaft aus, dass Frauen weiterhin den Mund halten sollten, auch wenn sie Führungspositionen innehaben. Es reicht nicht, dass sie Positionen mit Macht erreicht haben, um beachtet zu werden.“ [3]

Es ist höchste Zeit, dass dafür gesorgt, dass die Diskriminierung von Frauen nicht nur durch Gesetze untersagt wird, sondern im wirklichen Leben unterbunden wird. Wenn nötig auch durch Männer, die sehen und handeln.




 Foto: Europäische Kommission



[1] bit.ly/3paE0Vq

[2] bit.ly/3th3Idm

[3] https://www.irishexaminer.com/opinion/columnists/arid-40813401.html

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