Wie können Menschen nur so unmenschlich sein?

 

Während unserer Reise nach Israel besuchten wir die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Die Besucher gingen langsam und schweigend durch die Ausstellungsräume mit Dokumenten und vielen Fotos von Opfern, die gnadenlos ermordet worden waren. Die Zahlen bekamen Gesichter. Es waren Menschen, die verfolgt und getötet wurden. Das Nazi-Regime war entschlossen, die jüdische Rasse auszulöschen. Mein Herz wurde schwer. Wir gingen von rechts nach links und wieder zurück, von einem Raum zum anderen, und in der Mitte waren immer die Eisenbahnschienen, die zur Vernichtung führten. Und dann, kurz vor dem Ausgang, kam ich zu einer Ausstellung mit Schindlers Liste. Als ich sie ansah, drang die eindringliche Melodie aus dem Film durch meine Kopfhörer, und ich spürte, wie mir das Herz brach. Jetzt war mir  nicht mehr möglich, meine Tränen zurückzuhalten. Ich ging weinend hinaus. Es dauerte lange, bis der Blick über die friedlichen Berge half, die Tränenflut zu stoppen. Wie können Menschen so unmenschlich sein?

Nach unserer Rückkehr besuchten wir in Berlin das Jüdische Museum. Den Neubau entwarf Daniel Libeskind und baute leere Räume ein, die dunkel, kalt und erdrückend sind an Leerstellen erinnern sollen, die der Holocaust in Deutschland hinterlässt. Im „Memory Void“ erlebte ich die Installation „Schalechet – Gefallenes Laub“ des israelischen Künstlers Menashe Kadishman. Mehr als 10.000 runde Gesichter aus Eisen liegen auf dem Boden. Ich hörte das metallische Geklirr dieser Gesichter, als Besucher über sie liefen. Das Geräusch erinnerte an das Ankoppeln von Eisenbahnwaggons, gab aber auch den Opfern eine Stimme.

Ich stand da und sah, wie junge Leute auf die Gesichter traten, und verstand nicht, wie sie es tun konnten. Wieder kamen mir die Tränen. Eine Volontärin vom Museum, die dort Dienst tat, fragte mich, „Wie geht es Ihnen?“ Ich erzählte ihr von meinem Erlebnis in Yad Vashem. Wie können Menschen nur so unmenschlich sein?

In einem Interview bei der österreichischen Zeit im Bild erzählte Aba Lewitt, was er erlebte, als er 1943 deportiert wurde. Der 94-Jährige ist einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Mauthausen. Seine Botschaft an diejenigen, die es nicht erlebt haben ist: „Sie sollen bedenken, dass sie Menschen sind. Das ist das Einzige. Sie sollen menschlich sein. Es ist egal, ob er schwarz oder braun oder rot ist. Im Aussehen, meine ich. Er ist ein Mensch, er hat eine Seele.“

Antisemitismus ist leider nicht nur Geschichte. Jüdische Kinder werden heute in der Schule mit Antisemitismus konfrontiert. In jeder Synagoge gibt es Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren. Sie leben in ständiger Alarmbereitschaft und brauchen ständigen Polizeischutz. 

Schüler haben große Defizite in Geschichte. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung hervor. Demnach wissen nur 59 Prozent der befragten Schüler, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis im Zweiten Weltkrieg war. Bei den 14- bis 16-Jährigen sind es sogar nur 47 Prozent. Bald werden die letzten Überlebenden des Shoah verstummen, die aus eigener Erfahrung die Gräuel bezeugen konnten. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir sie vergessen.

Bundespräsident Steinmeier fand am 23. Januar 2020 in Yad Vashem passende Worte[1]:

„Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder! Deshalb darf es keinen Schlussstrich unter das Erinnern geben. Diese Verantwortung ist der Bundesrepublik Deutschland vom ersten Tage eingeschrieben. Aber sie prüft uns – hier und heute! Dieses Deutschland wird sich selbst nur dann gerecht, wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht wird: Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!
Dieses Versprechen erneuere ich hier in Yad Vashem vor den Augen der Welt. Und ich weiß, ich bin nicht allein. Hier in Yad Vashem sagen wir heute gemeinsam: Nein zu Judenhass! Nein zu Menschenhass!“

Auch in der kleinen Stadt Hechingen, in der ich lebe, gab es eine große jüdische Gemeinde. Die Synagoge wurde am 9. November 1938 zerstört, und nur deshalb nicht angezündet, weil ein Feuer auf die eng bebaute Stadt übergegriffen hätte. Die Juden wurden auch hier enteignet, deportiert und umgebracht. Daran erinnert die wiederhergestellte Alte Synagoge, die heute als Gedenkstätte und Kulturzentrum dient. Auch wenn dieses Jahr keine Gedenkveranstaltungen zum 9. November möglich sind, wollen wir nicht vergessen, was geschah. Denn es darf nie wieder geschehen!

 


                                                            Foto: Hannele Ottschofski


How can people be so inhuman?

 

During our trip to Israel  we visited the Holocaust memorial Yad Vashem. The visitors walked slowly and silently through the exhibits with documents and many photos of victims who had been mercilessly murdered. The numbers got faces. They were people who were persecuted and killed. The Nazi regime was determined to exterminate the Jewish race. My heart became heavy. We went from right to left and back again, from one area to the next, and in the middle there were always the railway tracks leading to destruction. And then, just before the exit, I came to an exhibit with Schindler's List. As I looked at it, the haunting melody from the movie came through my headphones, and I felt my heart  breaking. Now it was no longer possible for me to hold back my tears. I went out crying. It took a long time until the view over the peaceful mountains helped to stop the flood of tears. How can people be so inhuman?

After our return we visited the Jewish Museum in Berlin. The new building was designed by Daniel Libeskind and incorporated empty rooms that are dark, cold, and oppressive, in order to remind us of the empty spaces left behind by the Holocaust in Germany. In "Memory Void" I experienced the installation "Schalechet - fallen leaves" by the Israeli artist Menashe Kadishman. More than 10,000 round faces made of iron lie on the floor. I heard the metallic clang of these faces when visitors walked over them. The sound was reminiscent of the docking of railroad cars, but it also gave the victims a voice.

I stood there and saw young people treading over these faces, not understanding how they could do it. Again, tears came to my eyes. A volunteer from the museum who was on duty there asked me, "How are you?" I told her about my experience at Yad Vashem. How can people be so inhuman?

In an interview in the Austrian ‚Zeit im Bild‘, Aba Lewitt told what he experienced when he was deported in 1943. The 94-year-old is one of the last survivors of the Mauthausen concentration camp. His message to those who did not experience it is: "They should remember that they are human beings. That is the only thing. They should be human. It does not matter if they are black or brown or red. In appearance, I mean. They are human, they have a soul."

Unfortunately, anti-Semitism is not just history. Jewish children are confronted with anti-Semitism at school today In every synagogue there are security gates and metal detectors. They are at constant alert and need constant police protection. 

Students have great deficits in history. This is shown by a representative survey commissioned by the Körber Foundation. According to the survey, only 59 percent of the students surveyed know that Auschwitz-Birkenau was a Nazi concentration and extermination camp during World War II. Among 14- to 16-year-olds, the figure is only 47 percent. Soon the last survivors of the Shoah, who were able to bear witness to the horrors from their own experience, will fall silent. We must not permit them to be forgotten.

Federal President Steinmeier found appropriate words on January 23, 2020, in Yad Vashem[2]:

"And there remains only one answer: Never again! Nie wieder! That is why there cannot be an end to remembrance. This responsibility was woven into the very fabric of the Federal Republic of Germany from day one. But it tests us here and now.  This Germany will only live up to itself, if it lives up to ist historical responsibility. We fight antisemitism! We resist the poison that is nationalism! We protect Jewish life! We stand with Israel!
Here at Yad Vashem, I renew this promise before the eyes of the world. And I know that I am not alone. Today we join together to say: No to antisemitism! No to hatred!“


In the small town of Hechingen, where I live, there was also a large Jewish community. The synagogue was destroyed on November 9, 1938, and was not set on fire only because a fire would have spread to the other buildings oft he densely built  town. Here, too, the Jews were expropriated, deported and killed. The restored Old Synagogue, which today serves as a memorial and cultural center reminds us of this tragedy. Even if this year no commemorative events are possible on November 9, we do not want to forget what happened. Because this must never happen again.

 



[1] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/01/200123-Israel-Yad-Vashem.html

[2] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2020/01/200123-Israel-Yad-Vashem-Englisch.pdf;jsessionid=450C5CAF5A3944A6575BD2241851DD29.1_cid392?__blob=publicationFile

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