Mein Wahlrecht

Ich habe heute gewählt. Ich habe mein Kreuz auf einer Wahlliste der Landtagswahl gesetzt. Keiner hat mich daran gehindert, weil ich eine Frau bin. Ich darf wählen, weil ich in einer Demokratie lebe, in der alle das gleiche Recht haben. Es war aber nicht immer so.


Lange wurde Frauen das Recht auf politische Mitbestimmung verwehrt durch gesetzgebende Organe, die aus Männern bestanden. Da sie den Frauen nicht freiwillig das Wahlrecht geben wollten, mussten Frauen das Recht einfordern und darum kämpfen. Die Frauen mit zu beteiligen würde aber bedeuten, dass Männer den Prozess nicht länger dominieren konnten. Macht abzugeben ist sicher schmerzhaft. In der Schweiz, eines der letzten europäischen Länder, das den Frauen 1971 das Wahlrecht zugestand, kam die Veränderung sicher zustande, weil Frauen sich dafür aktiv einsetzten, aber wahrscheinlich auch, weil es einfach für ein modernes, demokratisches Land zu peinlich war, Frauen weiterhin aus dem politischen Prozess zu verbannen. In einem früheren Referendum hatten die Wahlberechtigten, alles Männer, sich dagegen ausgesprochen, ihre Macht zu teilen, und dadurch ihren Müttern, Schwestern, Frauen und Töchtern ihre demokratischen Rechte verwehrt.


Dass ich heute wählen durfte, verdanke ich den Frauen, die vor über 100 Jahren sich dafür einsetzten und kämpften. Ihnen wurde gesagt, ihre Rechte würden gut vertreten durch den Vater, Bruder oder Ehemann und sie sollten Ruhe geben. Mann war der Meinung, Frauen wären in politischen Sachen überfordert. Die von Männern verabschiedeten Gesetze waren auch, was das Familienrecht anging, ungerecht. Damit gaben die Frauen sich nicht zufrieden, weil sie die Ungerechtigkeit Tag für Tag erlebten. Die Suffragetten um Emmeline Pankhurst in England wurden verprügelt, verhaftet und im Gefängnis festgehalten. Die Regierung versuchte sie einzuschüchtern, aber sie ließen sich von den Drohungen und Bestrafungen nicht abhalten. Im Gefängnis verweigerten sie das Essen, um durch den Hungerstreik ihre letzte Freiheit durchzusetzen. Weil die Regierung nicht zulassen konnte, dass sie im Gefängnis starben, wurde sogar gewalttätige Zwangsernährung eingesetzt. Diese Frauen waren bereit, ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um das Wahlrecht zu bekommen, und an der Gestaltung der Gesetze mitwirken zu dürfen.

Was uns heute so selbstverständlich erscheint, wurde in vielen Ländern durch die Opfer der Frauen ermöglicht.
Die Welt hat sich durch das Engagement von Frauen verändert, aber auch durch die wachsende Einsicht der Männer. Wir leben nicht mehr in der patriarchalischen Gesellschaft unserer Vorfahren. Heute kämpfen Frauen nicht mehr um ihre Grundrechte. Die Diskriminierung ist viel subtiler. Sie ist versteckt in der Einstellung der männlichen Überheblichkeit, die immer wieder zur Schau kommt. Mansplaining. Viele Männer neigen noch dazu, Frauen von oben herab zu behandeln. Eine Frau muss noch immer viel mehr leisten, viel tüchtiger als ein Mann sein, um als gleichwertig wahrgenommen zu werden. Eine Frau, die sich durchsetzt und etwas zuwege bringt, wird oft zu Unrecht als aggressiv dargestellt. Wann werden wir endlich dazu kommen, dass es nicht mehr wichtig ist, welches Geschlecht eine Person hat, um respektvoll behandelt zu werden?

Ich habe meine Stimme heute einer Frau gegeben, weil ich davon überzeugt bin, dass wir mehr Frauen in den Parlamenten brauchen. Wir brauchen die weibliche Perspektive in der Politik, um gerechtere Gesetze zu verabschiede für das allgemeine Wohl der Bevölkerung.

Ich kann kaum glauben, dass ich 40 Jahre lang auf mein Wahlrecht verzichtet habe, weil ich in einem Land lebe, dessen Staatsbürger ich nicht war. Ich hätte bei den Wahlen in meinem Heimatland wählen können, wenn die Botschaft aufgesucht hätte, aber das war mir zu mühsam. In dem Land, in dem ich lebte, hätte es trotzdem keinen Unterschied gemacht. Jetzt, wo ich die doppelte Staatsbürgerschaft habe, könnte ich in beiden Ländern wählen, aber mir liegt mehr daran, dort zu wählen, wo ich lebe.

Dieses Dilemma erinnert mich an die Situation in meiner Kirche. Ich bin seit 58 Jahren Mitglied dieser Kirche, aber ich war nicht in der Lage, meiner Stimme Gehör zu verschaffen. In vielen Kirchen haben wir immer noch eine patriarchalische Struktur. Die ausschließlich männliche oberste Leitung verweigert Frauen die volle Teilhabe am Auftrag und Dienst der Gemeinde. Da die Zahl der Frauen in Leitungspositionen sehr gering ist, haben Frauen praktisch keine Chance, sich in den Entscheidungsgremien Gehör zu verschaffen, und sie sind immer noch auf die Großzügigkeit der Männer angewiesen, um Veränderungen herbeizuführen; wir können nur hoffen, dass es den Männern bald zu peinlich wird. Wann werden sie einsehen, dass auch die weibliche Perspektive in einer Kirche für das allgemeine Wohl und den Bestand der Kirche benötigt wird?




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