Kaddisch im Reichstag
Bei der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer
des Nationalsozialismus am 27. Januar 2022 flossen viele Tränen. Es war eine sehr
emotionale Veranstaltung. Wie sollte es auch anders sein? Inge Auerbacher, 87,
die Theresienstadt mit ihren Eltern überlebt hatte erzählte, wie sie als Kind
aus ihrem glücklichen Leben in einer schwäbischen Kleinstadt herausgerissen
wurde. Zwanzig Personen ihrer Verwandtschaft wurden ermordet und auch viele der
Familien, die mit ihr in Theresienstadt waren, wurden nach Auschwitz in den sicheren
Tod gesandt. Dass gerade sie am Leben blieb ist wie ein Wunder. Vier Jahre lang
kämpfte sie auch nach der Emigration der Familie in die USA um ihr Leben, da
sie durch die schrecklichen Umstände, Mangelernährung, Enge und den Dreck in
Theresienstadt an Tuberkulose erkrankt war. Erst die Erfindung von Streptomycin
rettete ihr das Leben.
Sie fasste das Erlebte am Ende ihrer Ansprache wie folgt zusammen:
“Summa summarum
Soviel ich weiß,
bin ich das einzige Kind, das unter allen Deportierten aus Stuttgart zurückkehrte.
20 Personen von
unserer Familie sind von den Nazis ermordet worden.
3 Jahre KZ
Theresienstadt.
4 Jahre im Bett
wegen der schweren gesundheitlichen Folgen.
8 Jahre
Schulverlust.
4 Jahre
Stigmatisierung, den Judenstern zu tragen.
Stigma wegen der
bösen Krankheit, die Partner daran hinderte, mich zu heiraten.
Ich durfte nie ein
Brautkleid tragen.
Ich werde nie Mama
oder Oma werden.
Aber ich bin
glücklich und die Kinder der Welt sind meine.
Ich schließe mit
meinem Herzenswunsch: Menschenhass ist etwas Schreckliches. Wir sind alle als
Brüder und Schwestern geboren. Mein innigster Wunsch ist die Versöhnung aller
Menschen. Entzünde heute eine Kerze zur Erinnerung an die ermordeten unschuldigen
Kinder, Frauen und Männer.
Entzünde eine
Kerze für das Leben, und halte die Dunkelheit zurück.
Sei Hüter deiner
Schwestern und Brüder, dann wird dein Glück immer blühen.
Wir sind alle als
Kinder Gottes geboren.
Für Einigkeit und
Frieden öffnen sich die Tore.
Die Vergangenheit
darf nie vergessen werden.
Zusammen wollen
wir beten für Einigkeit auf Erden.
Lasst uns
gemeinsam einen neuen Morgen sehen.
Dieser Traum soll
nie verlorengehen.“
Auch wenn Inge Auerbacher beim Gehen vom Bundespräsidenten und Bundeskanzler gestützt wurde, kam sie als starke Frau herüber und sprach mit einer klaren Stimme und im perfektem Deutsch als ob sie Deutschland nie verlassen hätte. Ihre Botschaft verdient es, unvergessen zu bleiben. Es gab nicht nur Tränen, sondern auch viele Umarmungen. So viele Emotionen in einem nüchternen, deutschen Bundestag erlebt man selten. Vielleicht einmal im Jahr an so einem Gedenktag.
Israels Parlamentspräsident Mickey Levy sagte in seiner auf Hebräisch gehaltenen Rede, dass jede Generation aufs Neue die schwere Aufgabe übernehmen müsse, die Erinnerung an die Schoa zu bewahren. Diese Erinnerung verbinde Israelis und Deutsche. Beide Nationen hätten es geschafft, das historische Trauma zu überwinden. Es gelte, aus der Erinnerung auch eine Vision zu schaffen: "Eine Zukunft die auf den Werten der Demokratie, der Freiheit und der Toleranz basiert. Werte, die Israel und Deutschland teilen."
Zum Schluss zeigte Levy das Gebetbuch eines deutsch-jüdischen Jungen, das er aus der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mitgebracht hatte. Der Junge hatte am 22. Oktober 1938 seine Bar-Mizwa gefeiert, "kurz bevor das Leben, das er hätte leben sollen, an der in Deutschland herrschenden Realität zerbarst". Levy war sichtlich bewegt, als er diese Geschichte erzählte, und am Ende seiner Ansprache die Anwesenden bat, zum Gebet aufzustehen. Während er das Kaddisch sprach, stockte ihm die Stimme und die Tränen rannen ihm über die Wangen. Emotional verbarg er sein Gesicht in seinen Händen.
#We remember. Nie wieder! Nicht vergessen. Versöhnung. Deutschland hat es verstanden, dass wir es nicht vergessen dürfen. Und doch gibt es wieder so viel Antisemitismus, nicht nur in unserem Land. Wir können froh sein, dass die Regierenden versuchen, dagegen zu steuern. Aber es liegt an uns allen, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass es wirklich nie wieder dazu kommt, dass Menschen wegen ihrer Abstammung, Religion, Rasse oder sexuellen Ausrichtung diskriminiert und verfolgt werden.
Der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer sagte, "Ihr
seid nicht verantwortlich für das was geschah. Aber dass es nie wieder
geschieht, dafür schon." Lasst uns diese Verantwortung ernst nehmen. Zünden wir
die Kerze an und lassen wir sie in unseren Herzen für immer brennen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen